12. Februar 2021 00:00
„Aus Gelsenkirchen? Mein Beileid.“ ist eine der häufigsten Reaktionen, die ich bekomme, wenn ich erzähle, wo ich herkomme. Dabei ist das auch nicht mehr als ein weiteres Vorurteil.
Von Antonia Gersmeier
Gelsenkirchen ist „hässlich“, „dreckig“ und „stinkt“. Vielleicht treffen diese Aussagen auf einige Teile Gelsenkirchens zu, dennoch habe ich es noch nie so empfunden. Heimatliebe spielt für mich eine große Rolle. Eine Liebe die man vielleicht unter all den Industrien und qualmenden Schornsteinen nicht versteht. Aber wer in der Stadt der tausend Feuer geboren wurde, lebt diese tausend Feuer auch. Im Marienhospital Ückendorf geboren, wohne ich nun schon mein ganzes Leben, 22 Jahre, hier und die Stadt ist ein Teil von mir. Gelsenkirchen hat viele spannende Seiten, viel mehr als Gäste von Außerhalb erwarten. Aus all den schönen Plätzen einen auszuwählen der den Titel „Lieblingsplatz“ verdient, ist gar nicht so einfach.
Dennoch kommt mir direkt die Halde Rungenberg im Stadtteil Gelsenkirchen Buer in den Sinn. Klingt zunächst unoriginell, dennoch verbinde ich mit keinem anderen Ort in Gelsenkirchen so viele Erinnerungen. Eigentlich ein aufgeschütteter Haufen Erde als Überbleibsel aus einer Zeit, in der noch viel Kohle gefördert wurde, bedeutet sie mir persönlich einiges mehr. Die Halde ist das Ergebnis jahrelanger Kohleförderung des Bergwerks Hugo. Das übergebliebene Material, das beim Bauen der Stollen entsteht, wird aufgeschüttet und so entsteht im Laufe der Zeit die Halde Rungenberg. Ganz oben teilt sich die Halde in zwei Hügel, auf denen sich jeweils ein großer Leuchtstrahler aus Metall befindet und als Landmarke die pottschwarze Nacht erhellt. Ein Bild, das wohl jeder Gelsenkirchener kennt. Mit knapp 60 Metern Höhe, im sowieso schon höher liegenden Buer, bietet die Halde einen weiten Blick über Gelsenkirchen und die angrenzenden Städte, gefühlt den ganzen Ruhrpott.
Drachensteigen lassen als Kind, die ersten Dates als Teenager, witzige Abende mit Freunden am Lagerfeuer am Fuß der Halde, unzählige Spaziergänge mit Familie oder allein und unendlich viele tiefgründige Gespräche. All das sind die schönen Momente, die mir in den Kopf kommen, wenn ich an diesen Ort denke. Nicht zu vergessen: Silvester um Mitternacht. Einfach atemberaubend, wenn die ganze Nacht durch die Feuerwerkskörper erhellt wird. Natürlich ist Silvester etwas Besonderes, aber auch sonst kann man am Rungenberg einiges erleben.
Jedes Mal Anstrengung pur, die knapp 300 Stufen bis nach ganz oben zu erklimmen, jedes Mal den einmaligen Ausblick über meine Stadt wert. Oben erst einmal richtig durchatmen, sich den Wind um die Ohren fegen lassen und den Ausblick genießen und abschalten: das bedeutet die Halde für mich. Die Arena, der Gasometer in Oberhausen, das Tetraeder in Bottrop und andere bekannte Wahrzeichen aus dem Ruhrgebiet kann man zwischen den Häusern und Zechen erkennen. Für mich Pottromantik pur und ich bezweifle stark, dass ich davon jemals genug bekomme. Die „Stadt der Tausend Feuer“ macht von hier oben, insbesondere abends, ihrem Namen alle Ehre.
Am Fuße des Berges liegt der Bio Masse Park Hugo, von uns liebevoll „Zechi“ genannt, da mittig ein stillgelegter Förderturm thront. Anfang dieses Jahres wird der eher staubige Platz in eine vielfältige Grünanlage verwandelt. Den Sonnenuntergang hier zu beobachten ist phänomenal. Die alte Zeche vor einem Himmel, der zu glühen scheint. In solch einer Atmosphäre an einem warmen Abend mit meinen besten Freunden einen Weißwein trinken, Karten spielen, zusammen lachen und einfach das Leben genießen ist für mich unbezahlbar. Dies Momente, die vielleicht gar nicht so besonders wirken, sind mir die Liebsten. Doch selbst bevor der Bio Masse Park entsteht, ist der Zechenplatz ein ständiger Treffpunkt meiner Clique. Als noch nichts vom Umbau zu erahnen ist, bauen wir uns unsere Bänke und auch eine abgesicherte Feuerstelle selbst. So sitzen wir Sommer für Sommer, Wochenende für Wochenende zusammen und genießen die Zeit miteinander. Die Diskussion, wer neues Feuerholz holt und dafür sein Leben im spinnenbesiedelten Dickicht riskiert, fehlt natürlich nie. Zum Glück bin ich nur für Getränke und Decken verantwortlich.
Der Lockdown und Kontaktbeschränkungen machen diesen Sommer im Bio Masse Park jedoch anders als die vorherigen auf dem Zechenplatz. Kleinere Gruppen, weniger Freunde gleichzeitig an einem Ort. Dennoch haben wir das Beste aus einer ungünstigen Situation gemacht.
Gerade als die Fitnessstudios beim ersten Lockdown schließen, ist die Halde immer für einen langen und ausgiebigen Spaziergang da. Also rein in die Bahn, bei Zeche Hugo aussteigen und über den Seiteneingang zur Halde hoch. Am Ende des Aufstiegs mit dem einmaligen Ausblick belohnt zu werden, motiviert ungemein. So gibt es Tage im Frühling 2020, an denen ich bis zu zehn Mal, die Halde erst hoch und wieder runter klettere. Manchmal bin ich allein dort. Ganz allein oben stehen, mit Blick auf den wolkenverhangenen Pott während einem der Wind nur so um die Ohren schlägt, in solchen Momenten fängt man an nachzudenken. Hier kann ich ein paar Minuten lang innehalten, in mich gehen, meinen Gedanken freien Lauf lassen. Naja, zumindest bis die klirrende Kälte mich in die Realität zurück katapultiert. Trotzdem ist die Halde ein ruhiger Ort, an dem ich mich immer zurückziehen kann, um meine Gendanken schweifen zu lassen. Wenn alle anderen Freizeitangebote so gut wie stillstehen, ist solch ein Platz sowohl für die körperliche, aber vor allem für die mentale Fitness und Gesundheit ungemein wichtig.
Der jetzige zweite Lockdown ist wieder eine Belastung. Sämtliche Freizeiteinrichtungen sind geschlossen, zudem wird es noch früher dunkel als im Frühling. Da hat man wenigstens noch die Gewissheit, dass die Tage bald wieder länger und heller werden und die Hoffnung, dass bis zum Sommer wieder alles beim Alten ist. Der zweite Lockdown ist da wesentlich härter. Schlimmer geht es meines Erachtens nach nicht, da die kalten, dunklen Wintertage mein Gemüt ohnehin schon sehr belasten. Deswegen bin ich dankbar, dass die Halde buchstäblich ein Fels in der Brandung ist. Eine Konstante, auf die ich mich auch in unruhigen Phasen verlassen kann.
Es ist ein Ort, den wir in Ehren halten und respektieren müssen. Zum einen aus dem geschichtlichen Aspekt, denn Bergbau gehört zu Gelsenkirchen wie Schläge zu Eisen. Sowohl die Halde als auch der Zechenplatz sind Hinterlassenschaften aus der Ära, die unsere Stadt und das ganze Ruhrgebiet zu dem besonderen Stückchen Erde macht, das so auf der Welt einzigartig ist.
Dieser Beitrag wurde bislang nicht kommentiert.